Alle Beiträge von Kurt Edler

Born in 1950. Teacher in Hamburg 1977-2004. Activist and co-founder of the Green Party and member of parliament in Hamburg 1984-86 and 1993-1997. Chairman of the German Society of Citizenship Education from 2008 to 2017. German Coordinator in the Council of Europe Programme Education for Democratic Citizenship and Human Rights (2009-2018).

G-20-Krawalle: Staatsphobie und Gewaltakzeptanz

Meine These ist, dass wir es bei den Auseinandersetzungen während des G-20-Gipfels in Hamburg mit einem Wechselspiel aus politischer Militanz, Szene-Voyeurismus und links-alternativer Gewaltakzeptanz zu tun hatten, das sich am hochsymbolischen Gegenstand des Treffens von Staatenlenkern in unmittelbarer Nachbarschaft hochschaukeln konnte. Dabei kam eine Verantwortungslosigkeit zum Tragen, die gerade durch die Unverbundenheit der Akteure und die Beliebigkeit der Beteilungsangebote verstärkt worden ist.

Mehr dazu hier:

R 101 Staatsphobie und Gewaltakzeptanz

Jean-Luc Mélenchons rhetorische Figuren

Die unter deutschen Linken verbreiteten Sympathien für Mélenchon rühren womöglich von der romantischen Faszination für ein zorniges Frankreich her. Die Franzosen haben ihre Revolution(en) wirklich gemacht, wir nicht. Spätestens seit Heinrich Heine ist dieser Schmerz im deutschen politischen Denken wirkmächtig. Was „La France insoumise“ gegenwärtig liefert, ist, psychoanalytisch betrachtet, ein Introjekt für die linke deutsche Seele.

Aufgeklärter wäre es jedoch, genauer hinzuschauen.

Mélenchons rhetorische Muster, Rede in Marseille 27aug17

Hasspolitik

„Konservativ“ – so nannte man noch vor zwei, drei Jahrzehnten Leute, die Sitte und Tradition, Recht und Ordnung gegen kulturelle Auflösungserscheinungen und politische Modernisierung verteidigten. Doch die Zeiten ändern sich. „Konservativ“ heißt nicht mehr bürgerlich, zivilisiert oder sittenstreng. Die politische Bühne wird neuerdings besetzt durch einen Typus, der konservative Ziele mit ganz anderen Mitteln verfolgt: Beschimpfung, Entgleisung, Diskriminierung, Hasstiraden und dreiste Lügen. Das aggressive, enthemmte Männchen hat Hochkonjunktur. –

Hasspolitik, eine neue Herausforderung. Muss die Zivilgesellschaft die Zähne zeigen? Und wenn wir es uns wünschen: Hat sie welche?

Mehr dazu hier:
KE Hasspolitik 18mrz17

Vor vierzig Jahren: Radikalisierung bei der RAF

Der RAF-Forscher Wolfgang Kraushaar hat am 1.3.17 auf einer Lesung der Ensslin-Biographin Ingeborg Gleichauf („Poesie und Gewalt“) bei der Evangelischen Akademie in Hamburg die These aufgestellt, dass der Radikalisierung von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin u.a. eine „Hysterisierung“ aus moralischer Empörung vorausgegangen sei, die zu der Entgegensetzung von Reden und Handeln und zur Denunziation gewaltloser politischer Strategien geführt habe, um letztlich in eine Selbstermächtigung zu terroristischen Aktionen zu münden. Dabei sei auch bei hochgebildeten Personen wie Ensslin, die bis dahin durchaus zu differenziertem Denken fähig gewesen seien, in der letzten Phase das „Ich“ völlig im „Wir“ aufgegangen.

Aus meiner eigenen Erinnerung an die Schwierigkeit, mit RAF-Anhängern über rationale Politikentwürfe zu reden, kann ich diese Interpretation bestätigen. Parolen wie „Das System macht keine Fehler, es ist der Fehler“ oder „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ waren nicht nur radikal, sondern immer darauf angelegt, einen totalen Gegensatz aufzubauen, der es dem revolutionären Subjekt moralisch verbot, sich im Rahmen der Systemgegebenheiten zu betätigen. Dieser Wunsch nach moralischer Reinheit durch das Ganz-anders-sein-Wollen hatte sektiererische und romantische Züge. Er hat aber vor allem den Akteuren ermöglicht, den Mythos eines „bewaffneten Kampfes“ zu zelebrieren, der seine eigene militärische Rationalität nicht mehr überprüfen musste. Damit war die RAF in der Sackgasse einer anarchistischen „Propaganda der Tat“ angelangt, aus der sie nicht mehr herauskam.

Bemerkenswert ist dabei ihre Selbstbezeichnung als „Stadtguerilla“. Man entleiht sich von der Aufstandsstrategie in der „Dritten Welt“ ein semantisches Symbol, lebt also von der Assoziation mit einem fernen Kampf. Auch hierin liegt ein romantisches Element. – Geistesgeschichtlich ist der Tat-Mythos der RAF schon bei Karl Marx angelegt: „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844) Der Anarchosyndikalismus und der Faschismus haben diese abstrakte Anrufungsgeste – Gewaltausbruch als Reinigung – in ihrem Gewaltkult weiterentwickelt.

Bei der Lesung in der Evangelischen Akademie ging es auch um die Sprache der RAF. Auffällig in deren Kommuniqués war immer das spezielle Gebräu von marxistisch-leninistischem Stil, durchsetzt von Hassvokabeln („Schweinesystem“, „die Bullen“) und kaltblütiger Wortwahl in Bezug auf die Darstellung der eigenen Taten.

Unser Nachdenken kreiste um die Frage, warum gebildete Leute den Weg rationalen politischen Denkens verlassen und sich mit suizidaler Konsequenz einer Option verschreiben, die die von ihnen beklagten Verhältnisse offenkundig nicht zu verändern in der Lage ist. Das protestantische Elternhaus von Gudrun Ensslin mag ein Faktor bei der Entwicklung einer strengen Moralität gewesen sein. Wie Kraushaar nachweist, ist im internationalen Vergleich der Frauenanteil bei der RAF viel höher gewesen als bei jeder anderen Terrorgruppe, und es gab einen hohen Anteil von Aktiven, die sich in der Begegnung mit lieblosen Jugendinstitutionen (Meinhof) oder als menschenunwürdig erlebten Psychiatrien radikalisiert hatten.

Zwischen moralischer Sensibilität und politisch-pragmatischer Intelligenz besteht ein Unterschied. So manchem aus unserer Generation fiel an den RAF-Leuten ihr aggressiver Moralismus auf; aus ihm wurden von ihnen direkt politische Pauschalurteile und – was wohl das eigentlich Fatale war – Handlungsoptionen abgeleitet, ohne die Dazwischenkunft eines politischen Handlungsinstrumentariums. Eine hysterische Moralisierung alles Politischen war die Folge – und daraus abgeleitet eine Selbstermächtigung, Gewalt gegen das „feindliche System“ auszuüben. Hier könnte m.E. eine wesentliche Ursache für das Abgleiten in den Terrorismus liegen. Und dies wurde sicherlich durch einen Marxismus und eine Kritische Theorie mitbegünstigt, die zu nicht mehr taugten als zu einem radikalen allgemeinen Kommentar der Weltlage. Der Kulturpessimismus der „Dialektik der Aufklärung“ bot eine Steilvorlage für eine kultur-revolutionäre Verdammung aller Westlichkeit.

Schaubild RAF-Radikalisierung

Was ist Deradikalisierung?

Wie solide ist eigentlich das theoretische Fundament, auf dem sich unsere Präventionspraxis bewegt? Die Kommunikationsgeschwindigkeit nimmt zu, und mit ihr die Verbreitung von wissenschaftlich klingenden Modewörtern. Alte, politologisch längst erledigte Begriffe wie „Extremismus“ sind noch im Schwange, und schon kommen neue in Gebrauch. Am populärsten in unseren Kreisen derzeit: „Deradikalisierung“. Es lohnt wirklich, mal einen Augenblick innezuhalten und die einfache Frage zu stellen: Was ist das eigentlich, und wie funktioniert es?

Dieser Frage gehen die Autoren eines Sammelbands nach, der von Christopher Baker-Beall, Charlotte Heath-Kelly und Lee Jarvis 2015 bei Routledge herausgegeben wurde: „Counter-Radicalisation. Critical Studies“. Prof. Tilman Grammes empfahl mir, das Buch für das von ihm mit herausgegebene Journal of Social Science Education zu rezensieren. Das habe ich getan, und mein alter Freund und Kollege Christopher Revett hat die hier angehängte Fassung dafür ins Englische übersetzt. Beiden herzlichen Dank!

Wer gleich die englische Fassung lesen (oder vielleicht weiterleiten) will:
http://www.jsse.org/index.php/jsse/article/view/1570/1621

ke-rezension-baker-beall-counter-radicalisation

Wo aber Gefahr ist…

Es gibt in der aktuellen Radikalisierungsdebatte eine Tendenz, die Ereignisse nur noch psychologisch zu deuten oder sich an die „Hoffnung“ zu klammern, die Täter von München und anderswo seien „einfach nur verrückt“. In der TAZ vom 30./31.7.16 reduziert Klaus Theweleit die Täter auf „zerstörte Körperlichkeiten“ und verliert sich in düsteren anthropologischen Deutungen einer in 14.000 Jahren gezüchteten männlichen Mordlust. Da bleibt dann alles auf der Strecke: die individuelle Verantwortung, die konkrete Situation, die persönliche Entwicklung und vor allem der Faktor Ideologie. Wer so mit „dem“ Menschen oder zumindest Mann fertig ist, muss natürlich über die Prävention von Einflüssen gewaltorientierter Weltanschauungen nicht mehr nachdenken. Vielleicht sollten wir, wenn wir politisch-pädagogisch intervenieren wollen, uns von derlei resignationsfördernden „Theorien“ nicht abhalten lassen. Hierzu ein paar Gedanken, die demnächst in der Zeitschrift „Gemeinsam lernen“ in leicht gekürzter Form erscheinen werden.

KE Wo aber Gefahr ist

Was tun gegen Rechtspopulismus?

Gerade weil Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sich häufen und die verbale Aggressivität von Pegida und Co. zunimmt, liegt der Lösungvorschlag nahe, in der Abwehr dieser Strömung zu den altbewährten Mitteln zu greifen, die die Republik gegen den Neonazismus so erfolgreich angewendet hat. Das, so meint der hier verlinkte Aufsatz, ist eine politische Sackgasse. In dieser Auseinandersetzung könnten diejenigen eine positive Rolle spielen, die die Maximen der Zivilgesellschaft sehr oft im Munde führen: die Grünen. Ein kritischer Blick auf die neue Situation.

KE Thesen zum Rechtspopulismus 08mrz16