Das Kabul-Syndrom

Der Taliban-Sieg erzeugt nun ein neues Narrativ: die Unüberwindbarkeit der Stammesgesellschaft. Ein herrlicher Stoff für neue Mythen. Aha – Demokratie geht hier nicht. Sie ist halt westlich, rational und staatsfixiert. Für den Afghanen ist das nichts.

Auf diese Erzählung werden alle aufspringen, die ihre Vorbehalte gegen den „Westen“ nun bestätigt finden, mit ihren rückwärtsgewandten Utopien von kerniger Gemeinschaft, wie sie Zygmunt Bauman in seinem letzten Werk „Retrotopia“ charakterisiert hat. Ich befürchte, dass sich damit ein ideologisches Bündnis herausbildet, in dem freiheitsfeindliche und identitäre Konstrukte miteinander verschmelzen: NATO-Gegner, Völkische und linke Kulturalisten im selben Boot.

Die vermeintliche Hochachtung vor der rauen Lebensart am Hindukusch ist aber so menschenfreundlich gar nicht. Denn wer glaubt, dass es andernorts auch ohne Parlamentarismus, Gewaltenteilung und politischen Pluralismus geht, für den haben die Ideale der Aufklärung keine allgemeine Geltung. Wir stünden dann vor dem Phänomen einer kolonialistischen Weltbetrachtung von links und rechts: „Der Afghane“ braucht keine Freiheit, die Afghanin schon gar nicht. Aber wie sollen sie gegenüber dem Stammespatriarchen oder dem religiösen Führer ihr Selbstbestimmungsrecht verteidigen?

Ich muss an meine afghanischen Schüler in den Jahren von 1991-99 denken, die als Flüchtlinge in einem einzigen Jahr Deutsch lernten und das Grundgesetz vor lauter Begeisterung nur so verschlangen. Was hätten sie zu diesem Menschenbild gesagt?