Kategorie-Archiv: Demokratiepädagogik

Ganz normal

„Für mich ist Lehrer ein ganz normaler Job. Die Schule ist wie eine Firma, und der Schulleiter ist der Boss. Er hat das Sagen. Klar, anders läuft es ja auch nicht. Ich mache meine Arbeit, aber das war’s dann auch. Einige in unserem Kollegium reden immer von ‚Demokratie‘. Die wollen immer, dass wir uns ‚einbringen‘ und unsere Meinung sagen. Warum eigentlich? Ich will mir doch nicht den Mund verbrennen. Wenn die Leitung sieht, dass das, was sie macht, nicht klappt, dann wird sie sich schon korrigieren, oder sie kann sich Hilfe holen. Das müssen wir doch nicht machen! Dafür gibt es doch die vielgerühmten Unterstützungssysteme. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet ich mich da einmischen soll. Das ist doch gar nicht meine Aufgabe! Der Schulleiter beurteilt mich. Wenn ich ihm mal richtig die Meinung gegeigt habe, weiß ich doch gar nicht, ob sich das am Ende rächt.“

Wir haben hier das fiktive Verbalporträt einer Lehrernachwuchskraft skizziert. Dem Typus jedoch begegnen wir jeden Tag. An ihm verzweifeln sogar die Schulleiterinnen und Schulleiter selbst. „Da stehst du dann und sagst zu ihnen: ‚Ich würde gern von Ihnen wissen, ob Sie an meiner Entscheidung etwas auszusetzen haben‘. Und du siehst ihnen sogar an, dass es so ist. Aber sagen tun sie nichts. Und dann weißt du gar nicht mehr, wie du weitermachen sollst.“

Eine junge Lehrerfortbildnerin ärgert sich darüber, dass die Schulbehörde die Abituraufgaben nach der Prüfung zwar innerhalb der Schulen weiterreicht, jedoch nicht an diejenigen, die die Lehrer fortbilden sollen. Sie entwirft einen freundlichen Beschwerdebrief, in dem ganz konstruktiv auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, dass Lehrerfortbildner erfahren, was in den Prüfungen „dran“ war. Denn sie sollen ja schließlich die Lehrkräfte auf die Prüfungsdurchführung vorbereiten. Sie sucht nach Unterstützung – aber niemand möchte mit unterschreiben.

Kurt Edler

Wenn der Krieg zu dir kommt

Zu Zeiten der alten politischen Weltordnung erfanden die Gegner der atomaren Konfrontation der beiden Blöcke einen sinnigen Spruch: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Wir skandierten ihn, heiter und schelmisch, auf unseren Demos und am Rednerpult. Er enthielt eine Anspielung auf die fatalen Massenmobilisierungen des letzten Jahrhunderts und bot eine Alternative: Desertion als listige Zivilität. In der Betrachtung jener Geschichte hatten wir ein Verständnis entwickelt, demzufolge die Gefahr von den Staatsmächten ausgeht und die Völker die Leidtragenden sind. Das Böse kam sozusagen von oben, nicht von unten.

An der Wiege der Demokratiepädagogik steht, in den frühen 1990er Jahren, jedoch eine Serie erschreckender Ereignisse, die – nach der Aufweichung der Weltlager – dieser Geschichtsphilosophie widersprachen. Ein rechtsextremer Mob, der nicht vom Staat befohlen war und, im Osten, die Haut der sozialistischen Persönlichkeit unversehens abgestreift hatte, kam „aus der Mitte“ der Gesellschaft zum Vorschein und tobte sich aus.

Wir mussten so rasch handeln, dass wir offenbar keine Zeit hatten, unseren theoretischen Überbau zu überprüfen. Eigentlich hätte uns das Phänomen auch in dieser Hinsicht nachdenklich machen müssen. Denn die Gewalt kam aus dem Volke, mit pathetischem Dativ auf „-e“. Dasselbe Volk hatte sich erst zwei Jahre zuvor als friedlicher Selbstbefreier gefeiert. Oder war es ein anderes?

Als wir Jahre nach dem Start des BLK-Programms „Demokratie lernen und leben“ auf den inzwischen angehäuften Schatz an Handreichungen und Materialien zurückblickten, entdeckten wir drei große thematische Lücken. Erstens kam die DDR-Geschichte nicht vor. Zweitens fehlte die Dimension der Interkulturalität. Und drittens gab es fast keine politischen Analysen des Rechtsextremismus.

Die Demokratiepädagogik, die auf dem Geschehen nach der Wende aufsetzte, verstand sich als präventiv in dem Sinne, dass sie – in kritischer Abgrenzung zu einer offensichtlich wirkungslosen politischen Schulbildung – dem, was wir im weitesten Wortsinne unter Demokratie verstehen, durch eine wirksamere Pädagogik den Rücken stärken wollte. Aber sie verstand sich, politisch, selber auch als eine Erzeugerin demokratischer Praxis und demokratischer Strukturen. Ihre politische Normativität war so überbordend, das sich in spröden Wissenschaftlerkreisen dagegen eine Art protestantischer Allergie entfaltete, deren Symptome allerdings mittlerweile deutlich abklingen.

Präveniert werden sollte, aus dem Selbstverständnis der damaligen Akteure, einer Schädigung der Demokratie durch eine Schule, die sich formal als demokratisch erklärt, es aber in Wirklichkeit nicht ist. Jede neue junge Generation soll, aus der Sicht der Demokratiepädagogik, das Recht und die Möglichkeit haben, sich diejenigen Kompetenzen anzueignen, die die Demokratinnen und Demokraten von morgen brauchen. Das ist eine universelle, frühe Prävention, die nicht darauf wartet, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Schule, in der sie sich abspielt, muss sich – so das Credo z.B. der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik – als Lern- und Lebensort anbieten, an dem Demokratie erfahrbar wird. Die Hindernisse dafür liegen, so sahen und sehen wir es, im System. Die Konsequenzen sind eine Pädagogik mit reformerischem Mut und systemischer Intelligenz sowie eine Bildungspolitik, die die Krusten eines antiquierten Schulverständnisses und eines institutionalistischen Demokratiebegriffs aufsprengt. Bei diesem Bemühen ist die Demokratiepädagogik ein gutes Stück vorangekommen, und sie hat dabei mächtige Partner als Freunde gewonnen.

Aber die Zeiten ändern sich. Die Globalisierung kultureller und religiöser Konflikte ist im Klassenzimmer angekommen. Alte Welterklärungen greifen nicht mehr. Wo sie dennoch trotzig weiter vorgetragen werden, wirken sie verharmlosend. Wir sind verunsichert. Ein Akteur von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit tritt auf, mit dem wir nie gerechnet hätten: das Kind. Es sagt der fassungslosen Lehrerin ins Gesicht: „Ich brauche keine Freiheit. Ich habe meinen Glauben.“ Es teilt seine Klasse in Muslime und Christen ein und ordnet ihnen eine unterschiedliche Wertigkeit zu. Ungleichwertigkeitsvorstellungen, bekanntlich immer ein Spezifikum totalitärer Ideologien, machen sich in ganz neuen Formen breit. Damit einher geht bei radikalisierten Schülern die beredt vorgetragene Ablehnung von Demokratie als politischer Ordnung und Lebensform und die Rechtfertigung von Terror und Massenmord. Ein Zwölfjähriger wirbt auf seiner Facebookseite für den IS.

Was wir derzeit in den Metropolen beobachten, stellt die Demokratiepädagogik vor ganz neue Herausforderungen. Schulgemeinschaften geraten in Aufruhr. Ein sich als religiös wähnendes Mobbing greift um sich. Die Abwehrreaktionen lassen nicht auf sich warten. Der innere Frieden der Schule steht auf dem Spiel, und die Hilflosigkeit staatlicher Instanzen ist offenkundig, zumal die Auseinandersetzung sogar schon manche Grundschulen erfasst.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung steht die Demokratiepädagogik vor einer neuen Herausforderung. Sie muss ihren blinden Fleck der innergesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung überwinden und präventive, aber auch interventive Konzepte zur Abwehr von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit entwickeln.

Kurt Edler (20.12.2014)

KE, Wenn der Krieg zu dir kommt 20dez14

Schulfrieden

Die neunte Klasse ist allein im Raum. Markus und Oliver balgen miteinander. Es wird etwas heftig; es ist nicht mehr so richtig Spaß. Sie halten sich fest, starke Jungs, inzwischen eins siebzig groß. Die Klasse lacht. Irgendwie landet Markus’ Hand knapp unterhalb von Olivers rechtem Auge. Es schwillt recht schnell zu. Außerdem hat er eine leichte Hautabschürfung. Einige Schülerinnen sagen: „Oha.“

Die Lehrerin kommt und ist entsetzt, als ihr Oliver so entgegentritt. Sie lässt sich den Vorfall von ihm erklären. Eine Disziplinarkonferenz wird anberaumt. Die Eltern beider Jungen werden informiert. Markus soll einen schriftlichen Verweis bekommen und erhält die Auflage, an einem Anti-Gewalt-Training teilzunehmen. Seine Eltern sind fassungslos. Ihr Sohn hat noch nie etwas angestellt und gilt als ruhig und freundlich. Sie intervenieren beim Elternvertreter der Klasse. Da Markus wegen Leistungsproblemen die Schule wechseln möchte, wäre ein schriftlicher Verweis in seiner Akte für ihn gerade jetzt sehr nachteilig.

Einer Aufforderung, bei der Schulleitung vorstellig zu werden, kommen die Eltern nicht nach. Stattdessen kündigen sie einen Widerspruch gegen den Konferenzbeschluss an. Der Elternvertreter versuchen mit der Klassenlehrerin Kontakt aufzunehmen. Diese hat jedoch von der Schulleiterin die Anweisung erhalten, in der Sache nicht mehr Stellung zu nehmen, weil die Eltern offenbar den Rechtsweg beschreiten wollten. In den Tagen danach wird Markus wiederholt gedrängt, der Disziplinarmaßnahme zuzustimmen, da „es sonst noch schlimmer kommen“ werde. Er müsse kooperieren. Andernfalls würde eine weitere Konferenz stattfinden. Er könne auch sofort von der Schule verwiesen werden.

Nun setzt die Familie alle Hebel in Bewegung. Nach Feierabend werden im Internet Bundesverwaltungsgerichts-Urteile gelesen, und ein Beamter der Schulbehörde, der Vater einer Schülerin der Klasse ist, wird um Rat gebeten. Die beiden Jungen haben sich derweil auf Facebook miteinander versöhnt. Der Beamte ruft die Klassenlehrerin an und fragt, ob es nicht besser gewesen wäre, sich mit den beiden Jungen nach dem Vorfall erst einmal zusammenzusetzen. Und ob die Maßnahme angesichts der Tatsache, dass Markus noch nie aufgefallen sei und hier offenbar keine geplante Aggression vorliege, nicht doch etwas überzogen sei. Die Klassenlehrerin ist sich nicht sicher, ob sie überhaupt antworten darf, weist auf ihre Verschwiegenheitspflicht hin und bleibt im Allgemeinen.

Im weiteren Verlauf entwickelt sich zwischen den Ratsuchenden und ihren Beratern ein Email-Dialog, in dem versucht wird, die Klassenlehrerin miteinzubeziehen. Nach Vorliegen der Abmeldung des Schülers von der Schule verzichtet die Schule auf einen schriftlichen Verweis, noch bevor die Vorsitzende des Widerspruchsausschusses der Schulbehörde Gelegenheit zu einer Entscheidung hat.

Auf dem Elternabend im neuen Schuljahr erklärt die Klassenlehrerin, dass sie zukünftig keine Emails an ihre Privatadresse mehr haben möchte. Sie werde auch keine mehr beantworten. Wer mit ihr in Kontakt treten möchte, könne sie anrufen.

R 72 Schulfrieden