Vor vierzig Jahren: Radikalisierung bei der RAF

Der RAF-Forscher Wolfgang Kraushaar hat am 1.3.17 auf einer Lesung der Ensslin-Biographin Ingeborg Gleichauf („Poesie und Gewalt“) bei der Evangelischen Akademie in Hamburg die These aufgestellt, dass der Radikalisierung von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin u.a. eine „Hysterisierung“ aus moralischer Empörung vorausgegangen sei, die zu der Entgegensetzung von Reden und Handeln und zur Denunziation gewaltloser politischer Strategien geführt habe, um letztlich in eine Selbstermächtigung zu terroristischen Aktionen zu münden. Dabei sei auch bei hochgebildeten Personen wie Ensslin, die bis dahin durchaus zu differenziertem Denken fähig gewesen seien, in der letzten Phase das „Ich“ völlig im „Wir“ aufgegangen.

Aus meiner eigenen Erinnerung an die Schwierigkeit, mit RAF-Anhängern über rationale Politikentwürfe zu reden, kann ich diese Interpretation bestätigen. Parolen wie „Das System macht keine Fehler, es ist der Fehler“ oder „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ waren nicht nur radikal, sondern immer darauf angelegt, einen totalen Gegensatz aufzubauen, der es dem revolutionären Subjekt moralisch verbot, sich im Rahmen der Systemgegebenheiten zu betätigen. Dieser Wunsch nach moralischer Reinheit durch das Ganz-anders-sein-Wollen hatte sektiererische und romantische Züge. Er hat aber vor allem den Akteuren ermöglicht, den Mythos eines „bewaffneten Kampfes“ zu zelebrieren, der seine eigene militärische Rationalität nicht mehr überprüfen musste. Damit war die RAF in der Sackgasse einer anarchistischen „Propaganda der Tat“ angelangt, aus der sie nicht mehr herauskam.

Bemerkenswert ist dabei ihre Selbstbezeichnung als „Stadtguerilla“. Man entleiht sich von der Aufstandsstrategie in der „Dritten Welt“ ein semantisches Symbol, lebt also von der Assoziation mit einem fernen Kampf. Auch hierin liegt ein romantisches Element. – Geistesgeschichtlich ist der Tat-Mythos der RAF schon bei Karl Marx angelegt: „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844) Der Anarchosyndikalismus und der Faschismus haben diese abstrakte Anrufungsgeste – Gewaltausbruch als Reinigung – in ihrem Gewaltkult weiterentwickelt.

Bei der Lesung in der Evangelischen Akademie ging es auch um die Sprache der RAF. Auffällig in deren Kommuniqués war immer das spezielle Gebräu von marxistisch-leninistischem Stil, durchsetzt von Hassvokabeln („Schweinesystem“, „die Bullen“) und kaltblütiger Wortwahl in Bezug auf die Darstellung der eigenen Taten.

Unser Nachdenken kreiste um die Frage, warum gebildete Leute den Weg rationalen politischen Denkens verlassen und sich mit suizidaler Konsequenz einer Option verschreiben, die die von ihnen beklagten Verhältnisse offenkundig nicht zu verändern in der Lage ist. Das protestantische Elternhaus von Gudrun Ensslin mag ein Faktor bei der Entwicklung einer strengen Moralität gewesen sein. Wie Kraushaar nachweist, ist im internationalen Vergleich der Frauenanteil bei der RAF viel höher gewesen als bei jeder anderen Terrorgruppe, und es gab einen hohen Anteil von Aktiven, die sich in der Begegnung mit lieblosen Jugendinstitutionen (Meinhof) oder als menschenunwürdig erlebten Psychiatrien radikalisiert hatten.

Zwischen moralischer Sensibilität und politisch-pragmatischer Intelligenz besteht ein Unterschied. So manchem aus unserer Generation fiel an den RAF-Leuten ihr aggressiver Moralismus auf; aus ihm wurden von ihnen direkt politische Pauschalurteile und – was wohl das eigentlich Fatale war – Handlungsoptionen abgeleitet, ohne die Dazwischenkunft eines politischen Handlungsinstrumentariums. Eine hysterische Moralisierung alles Politischen war die Folge – und daraus abgeleitet eine Selbstermächtigung, Gewalt gegen das „feindliche System“ auszuüben. Hier könnte m.E. eine wesentliche Ursache für das Abgleiten in den Terrorismus liegen. Und dies wurde sicherlich durch einen Marxismus und eine Kritische Theorie mitbegünstigt, die zu nicht mehr taugten als zu einem radikalen allgemeinen Kommentar der Weltlage. Der Kulturpessimismus der „Dialektik der Aufklärung“ bot eine Steilvorlage für eine kultur-revolutionäre Verdammung aller Westlichkeit.

Schaubild RAF-Radikalisierung