Wenn der Krieg zu dir kommt

Zu Zeiten der alten politischen Weltordnung erfanden die Gegner der atomaren Konfrontation der beiden Blöcke einen sinnigen Spruch: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Wir skandierten ihn, heiter und schelmisch, auf unseren Demos und am Rednerpult. Er enthielt eine Anspielung auf die fatalen Massenmobilisierungen des letzten Jahrhunderts und bot eine Alternative: Desertion als listige Zivilität. In der Betrachtung jener Geschichte hatten wir ein Verständnis entwickelt, demzufolge die Gefahr von den Staatsmächten ausgeht und die Völker die Leidtragenden sind. Das Böse kam sozusagen von oben, nicht von unten.

An der Wiege der Demokratiepädagogik steht, in den frühen 1990er Jahren, jedoch eine Serie erschreckender Ereignisse, die – nach der Aufweichung der Weltlager – dieser Geschichtsphilosophie widersprachen. Ein rechtsextremer Mob, der nicht vom Staat befohlen war und, im Osten, die Haut der sozialistischen Persönlichkeit unversehens abgestreift hatte, kam „aus der Mitte“ der Gesellschaft zum Vorschein und tobte sich aus.

Wir mussten so rasch handeln, dass wir offenbar keine Zeit hatten, unseren theoretischen Überbau zu überprüfen. Eigentlich hätte uns das Phänomen auch in dieser Hinsicht nachdenklich machen müssen. Denn die Gewalt kam aus dem Volke, mit pathetischem Dativ auf „-e“. Dasselbe Volk hatte sich erst zwei Jahre zuvor als friedlicher Selbstbefreier gefeiert. Oder war es ein anderes?

Als wir Jahre nach dem Start des BLK-Programms „Demokratie lernen und leben“ auf den inzwischen angehäuften Schatz an Handreichungen und Materialien zurückblickten, entdeckten wir drei große thematische Lücken. Erstens kam die DDR-Geschichte nicht vor. Zweitens fehlte die Dimension der Interkulturalität. Und drittens gab es fast keine politischen Analysen des Rechtsextremismus.

Die Demokratiepädagogik, die auf dem Geschehen nach der Wende aufsetzte, verstand sich als präventiv in dem Sinne, dass sie – in kritischer Abgrenzung zu einer offensichtlich wirkungslosen politischen Schulbildung – dem, was wir im weitesten Wortsinne unter Demokratie verstehen, durch eine wirksamere Pädagogik den Rücken stärken wollte. Aber sie verstand sich, politisch, selber auch als eine Erzeugerin demokratischer Praxis und demokratischer Strukturen. Ihre politische Normativität war so überbordend, das sich in spröden Wissenschaftlerkreisen dagegen eine Art protestantischer Allergie entfaltete, deren Symptome allerdings mittlerweile deutlich abklingen.

Präveniert werden sollte, aus dem Selbstverständnis der damaligen Akteure, einer Schädigung der Demokratie durch eine Schule, die sich formal als demokratisch erklärt, es aber in Wirklichkeit nicht ist. Jede neue junge Generation soll, aus der Sicht der Demokratiepädagogik, das Recht und die Möglichkeit haben, sich diejenigen Kompetenzen anzueignen, die die Demokratinnen und Demokraten von morgen brauchen. Das ist eine universelle, frühe Prävention, die nicht darauf wartet, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Schule, in der sie sich abspielt, muss sich – so das Credo z.B. der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik – als Lern- und Lebensort anbieten, an dem Demokratie erfahrbar wird. Die Hindernisse dafür liegen, so sahen und sehen wir es, im System. Die Konsequenzen sind eine Pädagogik mit reformerischem Mut und systemischer Intelligenz sowie eine Bildungspolitik, die die Krusten eines antiquierten Schulverständnisses und eines institutionalistischen Demokratiebegriffs aufsprengt. Bei diesem Bemühen ist die Demokratiepädagogik ein gutes Stück vorangekommen, und sie hat dabei mächtige Partner als Freunde gewonnen.

Aber die Zeiten ändern sich. Die Globalisierung kultureller und religiöser Konflikte ist im Klassenzimmer angekommen. Alte Welterklärungen greifen nicht mehr. Wo sie dennoch trotzig weiter vorgetragen werden, wirken sie verharmlosend. Wir sind verunsichert. Ein Akteur von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit tritt auf, mit dem wir nie gerechnet hätten: das Kind. Es sagt der fassungslosen Lehrerin ins Gesicht: „Ich brauche keine Freiheit. Ich habe meinen Glauben.“ Es teilt seine Klasse in Muslime und Christen ein und ordnet ihnen eine unterschiedliche Wertigkeit zu. Ungleichwertigkeitsvorstellungen, bekanntlich immer ein Spezifikum totalitärer Ideologien, machen sich in ganz neuen Formen breit. Damit einher geht bei radikalisierten Schülern die beredt vorgetragene Ablehnung von Demokratie als politischer Ordnung und Lebensform und die Rechtfertigung von Terror und Massenmord. Ein Zwölfjähriger wirbt auf seiner Facebookseite für den IS.

Was wir derzeit in den Metropolen beobachten, stellt die Demokratiepädagogik vor ganz neue Herausforderungen. Schulgemeinschaften geraten in Aufruhr. Ein sich als religiös wähnendes Mobbing greift um sich. Die Abwehrreaktionen lassen nicht auf sich warten. Der innere Frieden der Schule steht auf dem Spiel, und die Hilflosigkeit staatlicher Instanzen ist offenkundig, zumal die Auseinandersetzung sogar schon manche Grundschulen erfasst.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung steht die Demokratiepädagogik vor einer neuen Herausforderung. Sie muss ihren blinden Fleck der innergesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung überwinden und präventive, aber auch interventive Konzepte zur Abwehr von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit entwickeln.

Kurt Edler (20.12.2014)

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