Mein Führer bin ich lieber selbst

In meinem politischen Leben habe ich noch nie so oft über das Grundgesetz geredet wie heute. So auch am letzten Montag (19.2.18), im Rauhen Haus in Hamburg, auf einer Bezirksveranstaltung über Religionssensibilität. Ich warnte vor dem exklusiven Wir, geißelte die Sucht nach Identitätsdiskursen von rechts und links und stellte das inklusive, menschenfreundliche Wir dagegen. Aber noch deutlicher unterstrich ich, dass vor dem Wir das ICH kommt, also das Recht des Einzelnen, jenseits aller Kollektivität seinen eigenen Weg zu gehen, und berief mich dabei auf die Freiheitsrechte des Individuums nach Art. 2 GG.

Beim anschließenden Stehtischempfang ging mich ein radikaler evangelischer Pastor hart an. Das sei ja der pure Individualismus! Er hielt die Kraft dagegen, die aus der Gemeinschaft kommt, und bei dem Wort begannen seine Augen zu leuchten. Ich war ganz entspannt, denn ich hatte mir mein Glas Wein und ein Stück Quiche bereits gesichert und hatte keine Lust mehr zu streiten. Aber in mir meldete sich der alte anarchistische Atheist, und ich dachte: Ja, toll, deine Gemeinschaft! Und du, Pastor, führst sie dann in ihrer kindlichen Unschuld als Hirte an, und wenn die Herde in die Schule kommt, übernehmen wir als Pädagogen den Stab. Ein inklusives Wir zwar, alle fühlen sich wohl, singen miteinander und fassen sich an den Händen, aber einer führt es – ganz göttlich. Nein, danke! Auf diese Machtkonstruktion habe ich keine Lust. Die war mir schon beklemmend, als ich noch dreizehn war und in einer Jungschar in Ostfriesland das Charisma eines Jugendpfarrers erlebte. –

Die kleine, kurze Kontroverse am Stehtisch in Hamburg-Horn hat mich mal wieder in meinem urdemokratischen Misstrauen gegen alle Seelsorge und Knabenführung bestärkt. Und da bin ich dann auch sehr gern der unverbesserliche Individualist, dem heiliger als alle Offenbarungen der Satz ist: Der Mensch ist frei geboren.

Kurt Edler